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11:28 AM
Chaconne Passion, (Übersetzungsprobe S. 281 – 285 d. Originalausgabe

Orlin Sjarov kam aus dem Personalraum gestürzt. Die Kassiererin hinkte hinter ihm her.

„Ist er gekommen?“

„Nein, Chef“, entgegnete der Portier, „wer weiß, wo er sich herum drückt, der Junge ...“

„Ich werd ihm was drücken!“, schrie der Dirigent. „Geh doch schnell mal  ... nein warte, ich schaue selbst nach.“

Er lief hinaus auf den Vorplatz des Theaters und sah sich hilflos um. Der provinzielle Wochentag  war  gerade dabei sich zu verabschieden. Im Park gegenüber fuhren Kinder Fahrrad, andere spielten Fangen, Mütter schoben  Kinderwagen, Sonnenblumenverkäufer  trugen Sträuße aus spitzen Papiertüten voll gerösteter Kerne. Rentner droschen Karten, und am Ende der Straße verlegten Arbeiter neues Pflaster. Der Dirigent hörte die gedämpften Schläge ihrer Hämmer. Einer der Arbeiter sang einen in Mode gekommenen italienischen Schlager. Doch aus dem Saal drangen klar und deutlich Pfiffe, jemand pfiff auf den Fingern.

Im selben Moment tauchte Vasco auf. Er kam um die Ecke gerannt, in seiner Rechten das Futteral mit der Geige haltend. Sjarov war gerade dabei erleichtert aufzuatmen, als er sah, was er unter seinem linken Arm hielt und sein lichtes Haar stellte sich schlagartig auf. Vasco hatte einen Fußball dabei.

„Los Vasco, die Leute warten seit mehr als einer halben Stunde!“

„Sie werden warten“, entgegnete der junge Mann außer Atem. „Grüß dich Orlin!“

„Wozu hast du diesen Ball? Komm rein, damit wir anfangen können“

„Aaa, woher, erst wird gespielt.“

Der Dirigent starrte ihn durch seine Brille an wie ein Bison, die Venen wurden eng von dem in Wallung geratenen Blut.

„Sonst spiele ich nicht!“, schob Vasco stur hinterher.

Und auf der Wiese gegenüber begannen zwei Männer Fußball zu spielen, deren Kleidung überhaupt nicht zu dieser Art von Beschäftigung passte. Besonders die des Torwartes, der sich entmutigt zwischen den Bäumen aufgebaut hatte. Er wirkte in seinem Frack und mit den Lackschuhen an den Füßen, als würde er jeden Moment aus Haut fahren.

„Los, gib ab!“, rief Vasco und winkte auffordernd. „Komm, Orlin, gib den Ball ab!“

Der Torwart schoss den Ball mit Wut von sich und kreuzte die Arme vor der Brust. Vasco kam  energisch auf ihn zu gedribbelt, während er wie ein Rundfunkreporter kommentierte:

„Abadjiev am linken Flügel ... er gibt an Ivan Kolev ab ... Kolev täuscht den Verteidiger der Gäste ... schießt zu Janev ... Janev findet Diev, gibt an ihn ab, Diev zurück an Abadjiev ... dieser überwindet zwei der Ungarn ... weiter an Rakarov ... Rakarov überrascht mit einem Bombenschuss den gegnerischen Torhüter, er kann den Ball nur noch ablenken, doch da kommt der schnellfüßige Abadjiev, er erreicht ihn als Erster und befördert ihn unhaltbar unter den Torbalken ... Toooooooor!“

Der Ball pfeift an der traurigen Mine des Dirigenten vorbei.

„Orlin! Der Ball!“

„Es reicht, ich werd dir’s zeigen, von wegen den Ball jagen! Wir haben ein Konzert!!!

Vasco gab auf und ging mit gesenktem Kopf den Ball suchen, der im Gebüsch verschwunden war.

„Danach werden wir spielen. Versprochen!“

Der Dirigent hätte ihm alles versprochen, nur um ihn in den Saal zu kriegen.

Dieser wurde plötzlich still. Dann erscholl Applaus. Vasco nahm seinen Platz ein, sich mehrfach mit seinem Entschuldigungslächeln verbeugend. Hunderte Blicke waren auf seine Person gerichtet, die einsam neben dem Podium des Dirigenten stand.

Der Solist sah zu Sjarov hinüber, der die Hände hob. Das Orchester war schon lange extrem angespannt, einige Musiker hatten insgeheim gemurrt. Die Eigensinnigkeiten Abadjievs nervten sie. 

Das machtvolle Dröhnen der Geige flutete den Saal, als gehe zum ersten Mal seit Erschaffung der Welt die Sonne auf. Ozeanwellen versenkten die Inseln des Unmuts. Unmittelbar danach entlud sich die Wut des Orchester. Es grüßte die ersten Sonnenstrahlen mit einem Donnerschlag und nahm dann, leiser werdend, das Grundthema auf. Die scharfen Töne der Saiten, rätselhaft,  schön und zugleich unheilverkündend, bildeten ein Spalier und in seiner Mitte spannte sich voller Leidenschaft die silberne Spirale der Geige auf. Ihr Klang war kristallklar, er schnitt in das Gehör der befriedeten Menschenmenge, die im Zauber der Musik gefangen war.

Vasco spielte absolut genau, die Augen halb geschlossen, hielt er die Violine andächtig im Arm. Frei von Posen und primadonnenhaften Tänzen entlockte er dem Instrument seine intimsten Geheimnisse und formte dabei die bewundernswerte Brahmssche Komposition. Vor dem Publikum reihten sich musikalische Bilder und die schrecklichen, von der Erzählerin aus Niederzwirn*(*) geflüsterten Märchen aneinander. Die Töne, die das Publikum umfingen, ließen mal dunkle Wälder voller Feen, Zwerge und unheilverkündenden Ahnungen entstehen, mal weißstirnige romantische Paläste, in den felsigen Körper gemeißelt, Gefängnis von verzauberten Prinzessinnen, und mal stille Seen, verborgen im Schoße der Berge, zwischen Eis und bezaubernder Anmut, Heimat von Seerosen und scheuen Schwänen. 

Das Publikum hatte die Verspätung längst verziehen. Er füllte die Herzen mit Poesie und Schönheit. Die fließende Melodie zog sie in ihren schwindelig machenden Strudel, bis ein neuer Geysir aus glühenden Tönen entsprang. Als streife ein leuchtender Vogel durch dunkle Schluchten, als begrüße die Lerche den Sonnenaufgang mit einem Lied,  öffneten sich lichtdurchflutete Paläste,  üppige Felder und Wälder, endlose Bergmassive – versteinerte Giganten, verbannt ans Ende der Welt.

Vasco spielte erbarmungslos, seine Töne formten eine anmutige Skulptur von tödlicher Faszination.

Die Zuhörer verstummten, erstarrten, viele wagten nicht einmal zu atmen. Die unvermittelt abbrechenden Töne bohrten sich ihnen direkt in die Brust und verblieben dort als süßer Stachel des Genusses.

Das Orchester verstummte abrupt. Von der Bühne her war nur die Geige zu hören – leidenschaftlich, ungestüm, ergrimmt in den Händen eines entflammten Sünders. Sie wimmerte ergeben, heulte, knurrte unter dem Druck des Triebes, die Musik ließ ganze babylonische Türme von herrlicher Tönen entstehen, die bald darauf eingerissen wurden von immer neuen akustischen Orgien für alle, die gebannt im Saal lauschten. Die Melodie schoss mal hier hin, mal dort hin, sie wand sich in einer berückenden Fuge, fiel entkräftet nieder oder stieg wie ein filigranes Feuerwerk in die Lüfte, in Tausende glitzernde Konfettischnipsel zerspringend. Geflüster,  Schneestürme, Kinderweinen und das Geheul einsamer Bestien zogen durch den Saal. 

Die Orchestermitglieder waren verblüfft, nie hatten sie etwas Ähnliches gehört. Die Kadenzen wurden in ein völlig anderes Orbit geschleudert, sie nahmen die  Musik anders wahr, die wahrhaften Kostbarkeiten ihrer Kunst, die  so selten aus ihnen hervor brachen. Sie waren beseelt von einem urplötzlichen und allmächtigen  Glauben, von einem schicksalhaftem Verständnis für den Sinn des Lebens und ihrer Bestimmung. Sie waren herausgerissen aus der Lethargie der Orchestermusiker aus der Provinz, einer niederen Kaste, einer grauen Kaste, knapp über den Raudaumachern in den Restaurants, und auf die Stufe der  Schöpfung gehoben, die sie wieder erschufen und die einige von ihnen in Form dieser Kunst mit all ihrer Schönheit und ihrem titanischen Temperament wahrnahmen.

Die Musik Vascos  verwandelte sie, brannte in ihnen, eroberte sie. Sie vertrauten ihm voll, wo sie ihm noch eine Stunde zuvor gezürnt hatten.

Der erste Teil endete mit Totenstille. Die Musiker waren wiedergeboren, genau wie das Publikum.

Der Geiger zog sich für zwei Minuten zurück, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen und einen Schluck Wasser zu trinken. Als er wieder erschien, wurde er von geduldigen  Zuhörern und einem Orchester erwartet, das zu allem bereit war.

Orlin spürte den Wandel. Er war erfahren genug, um zu erfassen, dass sich die Kollegen buchstäblich innerhalb von Minuten in eine straffe musikalische Formation  verwandelt hatten. Er hörte ihre Einheit. Alle bemühten sich – keine Spur mehr von verspäteten Einsätzen, ausgefahrenen Ellenbogen, unprofessionellem Gebaren, Augenzwinkereien und leisen Sticheleien untereinander. Und er, gefangen von Vascos Spiel, begriff mit einem Mal, dass sich sein Orchester ebenfalls vorzüglich schlug, in dem es eine beneidenswerte Polyphonie mit tiefem, und gleichsam plastischem Klang entstehen ließ, mit ausgezeichneter  Rhythmik und dem abwechselnden Hervortreten der einzelnen Gruppen. Vergnügt wie er war, meinte er für eine Sekunde gar, er sei der überflüssigste Mensch im Saal. Vasco wirkte auf sie wie ein Zauber, sie folgten ihm anstandslos, mit leuchtenden Augen.

Und es war so leicht ihm zu folgen! Alles was er tat, war logisch, hatte einen tiefen geheimnisvollen Sinn und bestach durch Meisterschaft auf höchstem Niveau.

Der Dirigent gab sich dem Genuss hin. In seinem Kopf  schwirrten Gedanken an die letzte Lektüre der Partitur und seine eigenen Interpretationsvarianten herum. Kürzlich hatte er sich Schallplatten angehört, einige Kollegen hatten sich an spürbar langsameren Tempi versucht. Das Konzert klang bei ihnen - welch Ironie! - Wagnerischer als alles andere von Brahms Geschaffene.

Solche Interpretationen hätten sicher die Auffassungen  von Kater Mur* (*) verletzt und seinen sprichwörtlichen Spott herauf beschworen.

Das geniale Konzert Opus 77 wurde im Sommer 1878 fertiggestellt. Sein Namenspatron wurde genau an Neujahr 1879  Joachim, dem es gewidmet war. Der Geiger schrieb auch die Kadenz. Brahms beriet sich oft mit seinem Freund, um,  getreu seinem Wesen, dessen Bemerkungen später keinerlei Beachtung zu schenken. Die Partitur erforderte höchste technische Meisterschaft, ein Albtraum für die linke Hand, doch sie klang monumental und wiederbelebend. Das Konzert erinnerte in seiner romantischen Verträumtheit und so überquellend von freudiger Energie an die früheren Sinfonien von Johannes und den ersten Teil des D-Major-Konzerts von Beethoven, Opus 61.

 

(Aus dem Bulgarischen von Ines Sebesta)

 

Chaconne Passion

(Info zum Buch und zum Autor)                                                                                          

Chaconne Passion, (bulg.: Шакона пасион), erschienen 2009 (Mirabilis), ist ein Roman von Margarit Abadjiev über das wechselvolle Leben des Stargeigers Vasco Abadjiev (1926-1978).  Die Handlung des Romans spielt in Abadjievs bulgarischen Heimat sowie an musikalischen und kulturellen Brennpunkten Europas wie Brüssel, Berlin, Budapest, Paris, Hamburg wo der Künstler lebte, arbeitete oder gastierte. In die Handlung eingebunden  sind  Episoden, die sich um weltbekannte Werke der Klassik, große Komponisten und legendäre Virtuosen ranken. Durch die romanhafte Darstellung des von Umbrüchen reichen Lebens des Ausnahmekünstlers Abadjiev, das stellvertretend  für das Leben vieler Bulgaren steht, die die Sehnsucht nach Freiheit in die Ferne trieb, hat der Autor dem Künstler ein Denkmal geschaffen, das in Bulgarien große Beachtung fand, so wurde seit Veröffentlichung des Romans in Bulgarien ein Abadjiev-Musikwettbewerb ins Leben gerufen sowie eine Straße in Sofia nach Vasco Abadjiev benannt.

 

Der Autor: Margarit Abadjiev ist Drehbuchautor und Filmemacher.  Erschienen sind  bisher von ihm mehrere Bände mit Erzählungen sowie der Roman Phönix (1998). Der Autor ist ein großer Musikliebhaber und –kenner; bei den Recherchen zum Buch hat er das zu  V.  Abadjiev erschienene dokumentarische  Material und Biografien genutzt.

 

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Васко Абаджиев

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